Geht es um den Einsatz technischer Hilfsmittel, hinken Gerichte der Entwicklung oft hinterher. Als die Corona-Pandemie mündliche Verhandlungen im Gerichtssaal erschwerte und teils unmöglich machte, akzeptierten die Gerichte, dass mündliche Verhandlungen auch per Videoschaltung durchgeführt werden konnten. Da Gerichte und Anwälte damit gute praktische Erfahrungen machten, sah sich der Gesetzgeber veranlasst, die Digitalisierung der Justiz voranzutreiben. Im Mai 2023 präsentierte das Bundesjustizministerium den Entwurf eines „Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten“. Danach soll den Gerichten künftig ein möglichst großer Gestaltungsspielraum eingeräumt werden, wenn es um die Planung, Anordnung und Durchführung von Gerichtsterminen per Bild- und Tonübertragung geht. Der Gesetzgeber nimmt seine Aufgabe angesichts des Umfangs und der Details des Gesetzesentwurfs sehr ernst und sieht angesichts der damit einhergehenden Herausforderungen einen hohen Regelungsbedarf. Demgemäß umfasst der Gesetzesentwurf 90 Seiten.
Wie ist die Rechtslage bisher?
Nach § 128a Zivilprozessordnung ist es bislang so, dass das Gericht es den an einem Zivilverfahren Beteiligten auf Antrag oder von Amts wegen gestatten kann, eine mündliche Gerichtsverhandlung per Videokonferenztechnik durchzuführen. Allerdings steht die Entscheidung hierüber dem Gericht zu, das nach pflichtgemäßem Ermessen entscheidet. Die Entscheidung des Gerichts ist nicht anfechtbar. Eine Begründung ist nicht vorgesehen. Soweit Videokonferenzen überhaupt in Betracht gezogen wurden, sind diese meist daran gescheitert, dass in den Gerichten nicht die dafür notwendige Technik vorhanden war oder das Gericht schlicht kein Interesse hatte, eine Videoschaltung zu organisieren. Zudem gab es eine Reihe datenschutzrechtlicher Fragen und manipulativer Risiken, für die der Gesetzgeber Lösungen zu finden sucht.
Hinzu kommt, dass die Familiengerichte in Scheidungsverfahren gesetzlich verpflichtet sind, das persönliche Erscheinen der Ehegatten zum mündlichen Scheidungstermin anzuordnen (§ 128 FamFG). Damit soll gewährleistet werden, dass sich das Gericht einen persönlichen Eindruck verschafft, ob die Eheleute tatsächlich geschieden werden wollen und ob es Ansätze gibt, dass eventuell im Streit stehende Scheidungsfolgen einer Regelung bedürfen.
Aber auch in Scheidungsverfahren handhabten es Gerichte während der Corona-Pandemie oft so, dass insbesondere einvernehmliche Scheidungen, die im gegenseitigen Einvernehmen beider Ehepartner bewerkstelligt werden konnten, Videokonferenzen bewilligt wurden. Die Ehepartner nebst Anwalt brauchten dann nicht persönlich im Gerichtssaal zu erscheinen. Das Familiengericht konnte trotzdem die Scheidung beschließen. Der Scheidungsbeschluss wurde den Beteiligten sodann zugestellt.
Was soll geändert werden?
Das Bundesjustizministerium strebt an, den Einsatz von Videokonferenztechnik praxistauglicher zu machen und im gerichtlichen Alltag zu etablieren. Dafür wird die bislang maßgebliche Vorschrift des § 128a ZPO neu formuliert. Die Videoverhandlung soll damit einer Verhandlung im Sitzungssaal des Gerichts unter physischer Anwesenheit aller Beteiligten gleichgestellt sein.
Bislang war es so, dass die Verhandlung in Bild und Ton in das Sitzungszimmer des Gerichts zu übertragen war. In der Neufassung der Regelung wird darauf verzichtet. Die Videoverhandlung muss wie bisher in Bild und Ton an die Aufenthaltsorte der Verfahrensbeteiligten (Wohnung, Büro des Anwalts) und zugleich in Echtzeit an die Gerichtstelle übertragen werden, von der aus der oder die Vorsitzende die Verhandlung leitet. Damit kann der oder die Vorsitzende das Verfahren auch vom Schreibtisch aus leiten und muss sich nicht allein ins Sitzungszimmer des Gerichts begeben. Die Ladung der Beteiligten zum Termin erfolgt nicht an den jeweiligen Aufenthaltsort, sondern lediglich zur Teilnahme an der Videoverhandlung unter Angabe des Übertragungswegs einschließlich der zu verwendenden Einwahldaten. Treten Störungen jedweder Art ein, kann das Gericht durch Ausübung der Prozessleitung sowie mit sitzungspolizeilichen Maßnahmen reagieren und die Videoverhandlung gegebenenfalls unter- oder sogar abbrechen.
Antragsrecht auf Videoverhandlung
Das Antragsrecht der Parteien und ihrer Anwälte auf Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung per Bild- und Tonübertragung soll dadurch gestärkt werden, dass das Gericht einen entsprechenden Antrag nicht nur ablehnen darf, sondern auch begründen muss, warum es den Antrag ablehnt. Außerdem soll das Gericht die Videoverhandlung nicht mehr nur gestatten, sondern gegenüber den Beteiligten auch anordnen können. Stellen alle an einem Verfahren Beteiligten einen Antrag auf Durchführung einer Videoverhandlung, soll das Gericht diese in der Regel auch anordnen. Lehnt das Gericht den Antrag ab, muss es die Entscheidung ausdrücklich begründen. In der Regel wird die Begründung darauf hinauslaufen, dass das Gericht das Bedürfnis sieht, sich einen persönlichen Eindruck von den Verfahrensbeteiligten verschaffen zu wollen. Die Entscheidung über die Gestattung oder Anordnung einer Videoverhandlung liegt ebenso wie die Ablehnung eines Antrags auf Videoverhandlung im pflichtgemäßen Ermessen der oder des Vorsitzenden.
Es empfiehlt sich jedoch, dem Gericht mitzuteilen, warum eine Teilnahme per Video gewünscht wird, damit dies bei der Ermessensausübung berücksichtigt werden kann. Der Antrag ist nicht fristgebunden, weil Umstände in der Person des Antragstellers, die einer Präsenzteilnahme entgegenstehen, auch erst kurz vor dem Termin eintreten können. Gleichwohl erscheint es sinnvoll, den Antrag in der Regel möglichst frühzeitig zu stellen, damit das Gericht ausreichend Zeit hat, über den Antrag zu entscheiden und gegebenenfalls die notwendigen technischen und organisatorischen Vorbereitungen für eine Videoverhandlung zu treffen. Wird der Antrag erst kurz vor der mündlichen Verhandlung gestellt, muss der Antragsteller damit rechnen, dass der Antrag schon deshalb abgelehnt wird, weil kurzfristig kein Sitzungssaal mit der erforderlichen technischen Ausstattung zur Verfügung steht (Quelle Gesetzesentwurf S. 54).
Jeder Verfahrensbeteiligten kann die gerichtliche Anordnung innerhalb von zwei Wochen per Einspruch anfechten. Der Einspruch muss nicht näher begründet werden. Zweck ist, dass niemand gegen seinen Willen in eine Videoverhandlung gezwungen werden soll. Soweit also ein Verfahrensbeteiligter darauf besteht, aus nachvollziehbaren Gründen persönlich im Gerichtssaal zu erscheinen, muss das Gericht diesem Wunsch entsprechen.
Da bereits die bislang maßgebliche Vorschrift des § 128a ZPO es gestattet, dass auch Zeugen und Sachverständige per Videoschaltung gehört werden können, ist davon auszugehen, dass diese Option auch künftig bestehen und nachhaltiger genutzt werden wird. Auch soll die Inaugenscheinnahme von Beweisen per Videoschaltung möglich sein.
Kann der Antrag auf Videoverhandlung abgelehnt werden?
Ob es künftig vollvirtuelle Videoverhandlungen geben wird, hängt nicht nur von den Interessen der Beteiligten ab, sondern davon, wie sich das Verfahren im konkreten Fall gestaltet. Bei der Entscheidung, ob eine Videoverhandlung durchgeführt wird oder nicht, sind solche Umstände zu berücksichtigen, die eine unmittelbare Anwesenheit von Verfahrensbeteiligten im Sitzungssaal erforderlich machen können. Die Gründe für die Ablehnung einer Videoverhandlung können dabei vielfältig sein und hängen maßgeblich von den Besonderheiten des Einzelfalls ab. So kann eine Videoverhandlung beispielweise ungeeignet sein, weil schwierige Vergleichsverhandlungen zu erwarten sind, bei denen die persönliche Anwesenheit der Prozessbevollmächtigten und insbesondere der Parteien hilfreich sein kann.
Ein weiterer denkbarer Ablehnungsgrund kann sich aus den Besonderheiten des prozessualen Lebenssachverhalts oder der zu behandelnden Rechtsmaterie ergeben, etwa bei besonderer persönlicher Betroffenheit der Parteien oder vor dem Hintergrund des vorprozessualen Geschehens. Ebenso kann eine Videoverhandlung ungeeignet sein, wenn eine Präsenzverhandlung für alle Beteiligten schneller und einfacher als eine Videoverhandlung anberaumt werden kann, wenn keine oder nur eine der Parteien anwaltlich vertreten ist, oder wenn sehr viele Personen an der Verhandlung teilnehmen. Schließlich kann eine Präsenzverhandlung vorzuziehen sein, wenn Krankheit oder Behinderung eines Verfahrensbeteiligten zu übermäßige Einschränkungen in der Wahrnehmung bei Nutzung eines Videoformats führen würden (Quelle Gesetzesentwurf S. 56).
Einvernehmliche Scheidungen eignen sich gut für vollvirtuelle Verhandlungen
Kann die Scheidung im gegenseitigen Einvernehmen als einvernehmliche Scheidung durchgeführt werden, spricht vieles dafür, die Scheidung per Videokonferenz durchzuführen und die Ehepartner insoweit zu entlasten, als sie sich nicht persönlich im Gerichtssaal einfinden müssen.
Sind die Ehepartner daran interessiert, die Scheidung per Videoschaltung durchzuführen, muss jeder Partner die technischen Voraussetzungen mitbringen, damit eine solche Videoschaltung möglich ist. Eine Schwierigkeit kann sich dann ergeben, wenn die Ehepartner im mündlichen Scheidungstermin durch das Familiengericht im Hinblick auf eine oder mehrere regelungsbedürftige Scheidungsfolgen eine Scheidungsfolgenvereinbarung rechtsverbindlich protokollieren lassen möchten.
Voraussetzung ist, dass beide Ehepartner anwaltlich vertreten sind. Ist ein Ehepartner nicht anwaltlich vertreten, kommt die Protokollierung durch den Richter nicht in Betracht. Alternativ wäre die Scheidungsfolgenvereinbarung vorab außergerichtlich notariell zu beurkunden. Eine Option könnte auch darin bestehen, dass der Anwalt, der den Ehepartner (Antragsteller) im Scheidungsverfahren vertritt, einen anderen Rechtsanwalt beizieht, der kollegial die Aufgabe übernimmt, den bislang nicht anwaltlichen Ehepartner (Antragsgegner) anwaltlich zu vertreten und die Scheidungsfolgenvereinbarung gerichtlich zu protokollieren.
Alles in allem
Gerichtsverhandlungen finden aus guten Gründen öffentlich in Gerichtssälen statt. Grund ist, dass Geheimprozesse, in denen Gerichte hinter verschlossenen Türen Urteile fällten, nicht mehr stattfinden sollten. Soweit Gerichtsverhandlungen künftig virtuell abgehalten werden, hat dies nichts mit Geheimprozessen zu tun. Die Interessen, der am Verfahren Beteiligten, müssen natürlich weiterhin zuverlässig berücksichtigt werden. Aufgrund der bisher gemachten Erfahrung mit Onlineverhandlungen können wir sagen: Der Gesetzesentwurf ist ein Schritt in die richtige Richtung!