Fachanwaltstitel auch mit Online-Scheidungen führbar

Donnerstag, 31.08.2023, geschrieben von iurFRIEND-Redaktion

Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen, die in bestimmten Rechtsgebieten besondere Kenntnisse erworben haben, dürfen den Titel eines Fachanwalts führen. Im Familienrecht gibt es den Fachanwalt für Familienrecht. Das Oberlandesgericht Hamm hat klargestellt, dass ein Rechtsanwalt oder eine Rechtsanwältin den Fachanwaltstitel für Familienrecht auch dann erwerben kann, wenn der Tätigkeitsschwerpunkt darin liegt, dass der Anwalt formalisiert einvernehmliche Scheidungen abwickelt, die überwiegend als Online-Scheidungen auf den Weg gebracht wurden.

Voraussetzungen des „Fachanwalts für Familienrecht“

Nach § 43c Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) kann einem Rechtsanwalt, der besondere Kenntnisse und Erfahrungen in einem Rechtsgebiet erworben hat, die Befugnis verliehen werden, eine Fachanwaltsbezeichnung zu führen. Über den Antrag des Rechtsanwalts auf Erteilung der Erlaubnis entscheidet der Vorstand der Rechtsanwaltskammer, nachdem ein Ausschuss der Kammer, die von dem Rechtsanwalt vorzulegenden Nachweise, über den Erwerb der besonderen Kenntnisse und Erfahrungen geprüft hat.

 

Der Erwerb besonderer praktischer Erfahrungen setzt nach § 5 Fachanwaltsordnung (FAO) voraus, dass der Antragsteller innerhalb der letzten drei Jahre vor der Antragstellung im Fachgebiet Familienrecht als Rechtsanwalt persönlich und weisungsfrei 120 Fälle bearbeitet hat. Mindestens 60 der Fälle müssen gerichtliche Verfahren sein. Gewillkürte Verbundverfahren sowie Verfahren des notwendigen Verbundes mit einstweiligen Anordnungen zählen doppelt.

 

Der Zeitraum von drei Jahren verlängert sich um Zeiten eines Beschäftigungsverbots nach den Mutterschutzvorschriften, um Zeiten der Inanspruchnahme von Elternzeit oder um Zeiten, in denen der Antragsteller aufgrund besonderer Härte in seiner anwaltlichen Tätigkeit eingeschränkt war. Eine Verlängerung ist auf 36 Monate beschränkt. Bedeutung, Umfang und Schwierigkeit einzelner Fälle können zu einer höheren oder niedrigeren Gewichtung führen.

FA-Titel auch bei Tätigkeitsschwerpunkt einvernehmliche Online-Scheidungen

Im Fall des OLG Hamm hatte eine Rechtsanwältin den Fachanwaltstitel Familienrecht beantragt. Sie hatte nachgewiesen, dass sie im geforderten Zeitraum im Fachgebiet Familienrecht persönlich und weisungsfrei 120 Fälle, davon mehr als 60 gerichtliche Fälle, bearbeitet hatte. Die Anwaltskammer lehnte die Verleihung der Fachanwaltsbezeichnung ab. Man habe nicht feststellen können, dass die Rechtsanwältin die aufgeführten Scheidungsverfahren persönlich und weisungsfrei bearbeitet habe. Ansatz war, dass die Rechtsanwältin überwiegend formalisiert einvernehmliche Scheidungen abgewickelt hatte und deshalb nicht erkennbar gewesen sei, dass sie die juristische Aufarbeitung des Sachverhalts selbst übernommen hatte.

 

Das OLG Hamm stellte klar, dass die persönliche und weisungsfreie Bearbeitung eine unabhängige, eigenverantwortliche und eigenhändig anwaltliche Sachbearbeitung eines Falles erfordere. Nach der gesetzlichen Regelung des § 5 FAO sei nicht erforderlich, dass sich die praktischen Erfahrungen auf bestimmte Bereiche des Familienrechts beziehen müssen. Insoweit reicht es, wenn Anwälte schwerpunktmäßig oder theoretisch auch ausschließlich einvernehmliche Scheidungen abwickeln (OLG Hamm, Urteil v 29.4.2022, Az. 1 AGH 43/21 in MDR 1119, 2022).

 

Es sei nicht entscheidend, wer im Außenverhältnis gegenüber dem Mandanten die Verantwortung und das Haftungsrisiko trägt. Entscheidend sei, dass die Anwältin die für die Scheidung notwendigen Schriftsätze angefertigt und die Mandanten beraten hat sowie im Scheidungstermin vor den Familiengerichten für die Mandanten aufgetreten ist.

 

Dabei spiele keine Rolle, dass die bei den Familiengerichten eingereichten Scheidungsanträge computergeneriert vorbereitet sind und den Mandanten, die überwiegend über ein Onlineportal mit der Kanzlei der Rechtsanwältin in Kontakt getreten sind, durch einen Mitarbeiter übersandt wurden. Die von den Mandanten handschriftlich ausgefüllten und an die Kanzlei zurückgesandten Formulare seien in der Kanzlei zu einem Schriftsatz verarbeitet worden, den die Rechtsanwältin unterzeichnet und bei den Familiengerichten eingereicht hatte. Die für den Versorgungsausgleich notwendigen Auskünfte der Versorgungsträger wurden regelmäßig kommentarlos an die Mandanten übersandt. Mandantengespräche und Beratungen erfolgten allenfalls telefonisch. Im mündlichen Scheidungstermin trat die Anwältin selbst auf oder erteilte Anwaltskollegen Untervollmacht.

 

Die Rechtsanwältin habe im Ergebnis genauso gearbeitet, als wenn Sie in einer Anwaltssozietät tätig wäre, dort die Mandate bearbeitet und der Seniorsozius die Schriftsätze unterschreibt. Auch in diesem Fall erbringt der Rechtsanwalt, der vorgefertigte Formulare oder Vordrucke verwendet, eine eigene anwaltliche Leistung, während derjenige, der die Schriftsätze lediglich unterschreibt, keine derartige gedankliche juristische Leistung erbringt.

Persönliche Leistung des Anwalts – ob online oder nicht

Auch soweit eine anwaltliche Tätigkeit durch die Verwendung und Verarbeitung von Formularen erfolgt und sich diese Tätigkeit qualitativ von individuell erarbeiteten Schriftsätzen unterscheidet, bleiben diese dennoch eine persönliche Leistung des Rechtsanwalts. Die Verwendung von Vordrucken und Formularen sei im anwaltlichen und gerichtlichen Geschäftsbetrieb allgemein üblich und bei standardisierten Verfahren wie einvernehmlichen Scheidungen wirtschaftlich zweckmäßig. Es mache insoweit auch keinen Unterschied, ob der Anwalt einen bestimmten Standardtext immer wieder nach einer Vorlage aus dem Prozesshandbuch diktiert oder ob das Formular durch eine Software erstellt wird.

 

Die persönliche anwaltliche Leistung ergebe sich in derartig formularmäßig abgewickelten Massengeschäften daraus, dass der Anwalt erkennen und entscheiden muss, ob der zur Beurteilung anstehende Sachverhalt sich für eine formularmäßige Bearbeitung eignet, ob der Formulartext richtig verwendet wurde oder ob der Fall vielleicht doch eine individuelle Bearbeitung und Antragstellung erfordere.

 

Dafür spreche auch ein Vergleich mit den Voraussetzungen für die Erlangung der Fachanwaltsbezeichnung „Gewerblicher Rechtsschutz“. Danach ist es zulässig, einen Teil der notwendigen Fälle durch Schutzrechtsanmeldungen nachzuweisen. Dazu ist ein vorgefertigtes Formular auszufüllen. Es bedarf nicht viel praktischer Erfahrungen, um ein solches Formular korrekt auszufüllen. Weil das Gesetz verhindern will, dass ein Bewerber die notwendige Fallzahl allein durch einfach gestaltete und standardisierte Schutzrechtsanmeldungen erfüllt, darf der Bewerber lediglich fünf Schutzanrechtsanmeldungen vorlegen. Für den Bereich des Familienrechts fehlt aber eine vergleichbare Regelung. Die Konsequenz kann nur sein, dass der Bewerber um den Fachanwaltstitel Familienrecht die Fallzahl auch mit formularmäßig bearbeiteten Fällen, also auch mit einvernehmlichen Scheidungen im Online-Verfahren, erfüllen kann.

Alles in allem

Dafür spricht weiterhin die Regelung in § 5 Abs. IV FAO. Danach können die Bedeutung, Umfang und Schwierigkeit einzelner Fälle zu einer höheren oder niedrigeren Gewichtung führen. Dies bedeutet in der Konsequenz, dass einfach gelagerte Fälle wie einvernehmliche Scheidungen nicht weniger gewichtet werden dürfen.

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